Das Matriarchat in Papua-Neuguinea

»Die reinen Matriarchate gibt es nicht«,

behauptet dIe Luzerner Ethnologin Bettina Beer im folgenden Interview. Doch sollte sie nicht vergessen, dass auch die Menschen von Papua-Neuguinea von patriarchalen, christlichen Kolonialisten und Missionaren heimgesucht, ihrer Kultur beraubt und zwangsbekehrt wurden. Dass es überhaupt noch Überreste der einstigen Matriarchate gibt, grenzt an ein Wunder.
Katharina Döbler, Tochter und Enkelin von dortigen deutschen Missionaren hat das dunkle Erbe ihrer missionierenden Familiengeschichte in Form eines Romans erzählt. („Dein ist das Reich“ 2021) Der Titel des Interviews mit Bettina Beer müsste ehrlicherweise heissen:

Die reinen Matriarchate gibt es nicht mehr,

weil die überheblichen Weissen, die ursprünglichen, matriarchalen Kulturen auf der ganzen Welt zerstört oder zumindest zu einem erheblichen Teil patriarchalisiert haben.

„Sie hat die Kultur der Tolai durch mehrere Besuche in deren Heimatland Papua-Neuguinea kennengelernt. In matrilinearen Kulturen spielen die Frauen eine viel grössere Rolle, als dies in der westlichen Welt der Fall ist. Die Ethnologin Bettina Beer beschäftigt sich seit langem mit solchen Kulturen.  Sie ist Ethnologin hat durch ihren Forschungsschwerpunkt Papua-Neuguinea mit der matrilinearen Gesellschaft der Tolai Bekanntschaft gemacht. Im ZiG-Interview erzählt sie von ihrem dortigen Besuch und erklärt, wie matrilineare Gesellschaften dort funktionieren und was da Matrilinearität vom Matriarchat unterscheidet.

Bettina Beer, matrilinear bedeutet, dass die Vererbung von der Mutter zur Tochter stattfindet. Was ist der Unterschied zwischen dem Matriarchat und einem matrilinearen Verwandtschaftssystem?

Es ist nicht ganz richtig, dass direkt von der Mutter auf die Tochter vererbt wird. Bei den Tolai ist es zum Beispiel so, dass der Onkel auch eine wichtige Rolle spielt und so auch ein Mann involviert ist. Es werden nur ganz bestimmte Dinge, wie zum Beispiel Landrechte, vom Mann an die Kinder der Schwester weitergegeben. Bei den Mosuo ist es tatsächlich so, dass Bestimmtes, wie etwa das Wohnrecht, direkt von der Mutter an die Tochter weitergegeben wird, aber das ist nicht immer der Fall. Es ist ein Problem, zu sagen, eine ganze Gesellschaft sei matrilinear, weil es sich immer auf ganz konkrete Dinge bezieht, die weitergegeben werden. Es können Landrechte oder der Besitz sein, das ist jeweils unterschiedlich. In vielen Gesellschaften ist es eine Kombination aus beidem, so dass einige Dinge in der mütterlichen Linie weitergegeben werden und andere in der väterlichen. Da wird oft fälschlich gesagt, das ist eine patrilineare oder matrilineare Gesellschaft, da nur ein Aspekt herausgegriffen wird. Reine matriarchale Gesellschaften, in dem Sinne, dass Frauen die Herrschaft haben, gibt es gar nicht. Es gibt Erbfolgeregeln, aber Matriarchate, wie sie etwa in der antiken Mythologie beschrieben wurden, gibt es in Wirklichkeit nicht.

Was fasziniert Sie am meisten an der Matrilinearität?

Mich interessiert, wie unterschiedliche Dinge weitergegeben werden und wie sich das auf die Reproduktion und Festigung von Unterschieden auswirkt. Interessant an matrilinearen Gesellschaftssystemen ist, dass es weltweit sehr viel weniger davon gibt als patrilineare. Es ist spannend, sich anzuschauen, was bei ihnen anders ist und welche Konsequenzen das hat.

Können Sie beschreiben, wie das Leben bei den Tolai und Mosuo heute aussieht?

Die Kultur der Tolai ist eine der Gesellschaften, die sehr früh mit dem Westen in Kontakt kamen und in das Kolonialsystem eingebunden wurden, zumal sie an der Küste leben. Insofern haben viele von ihnen eine sehr gute Ausbildung. Viele Tolai werden heute in den Städten ganz ähnlich leben, wie man es hier in der Schweiz tut. Das Leben hat sich da stark gewandelt, und auch bei den Mosuo ist es nun so, dass sie vom Tourismus leben und all das, was als matrilinear zu bezeichnen ist, als eine zusätzliche Attraktion und Werbung für den Tourismus aufbereitet wird.

Sehen Sie in unserer westlichen Kultur Ansätze für eine matrilineare Gesellschaft?

Wenn man unter Matrilinearität versteht, dass unterschiedliche Dinge von der Mutter zur Tochter weitergegeben werden, dann ist das in der Schweiz oder in Deutschland zum Teil durchaus auch der Fall. Sicher gibt es bei uns vor allem patrilineare Überreste, zum Beispiel werden in westlichen Gesellschaften meist die Familiennamen nur vom Vater zum Sohn weitergegeben. Aber das löst sich schon langsam auf. Wir haben bei uns Veränderungen, so dass bestimmte Dinge jetzt auch über die mütterliche Linie weitergegeben werden. Zum Beispiel zunehmend auch die Namen.

Zahlen und Fakten

Bei den Tolai prägen die Frauen die Gesellschaft

Die Tolai sind eine der indigenen Bevölkerungsgruppen von Neubritannien, einer Insel westlich von Papua-Neuguinea. Über 120 000 Menschen gehören diesem Volk an. Heute leben viele Tolai in Städten an der Küste. Ihr Alltag ist in der heutigen Zeit kaum anders als in den westlichen Gesellschaften. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die Tolai schon sehr früh in Kontakt mit Seefahrern, Händlern und dem westlichen Kolonialsystem gekommen sind. Das Verwandtschaftssystem der Tolai ist matrilinear. Das bedeutet, dass die mutterseitige Verwandtschaft in der Kultur der Tolai die bedeutendere Rolle spielt als die väterseitige. Kinder gehören immer dem Klan ihrer Mutter an. Ausserdem werden bei den Tolai die Landrechte jeweils von den Müttern an die Töchter weitergegeben. Die Sprache der Tolai ist Kuana; sie umfasst verschiedene Dialekte. Neben dem Kina, der offiziellen Währung Papua-Neuguineas, gibt es bei den Tolai bis heute noch das traditionelle Muschelgeld.“ (SANJA BOCIC, ANIC NEUHAUS UND LIVIA BAERISWYL 22.05.2017 Freiburger Nachrichten)

 


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